Ludwig Bechstein

1801–1860

Der Romantiker Ludwig Bechstein wurde am 24. November 1801 in der Dichterstadt Weimar geboren. Er war das uneheliche Kind eines vaziierenden Franzosen namens Louis Hubert Dupontreau und der mittellosen Johanna Karolina Dorothea Bechstein aus Altenburg, die den Sohn bald nach der Geburt einer Pflegemutter überantwortete. Der kleine Ludwig muß in der Folge viel Häßliches erlebt haben, vielleicht ist das auch mit ein Grund, warum er sich Zeit seines Lebens in eine andere Welt versenken wollte und in Märchen und Sagen aus anderen Epochen eine eigene Wirklichkeit konstruierte, um seine Kindheit zu vergessen, die er später als „schlimmen Traum“ bezeichnete. Bechstein trieb seine geistigen Wurzeln wohl auch in die tiefe Vergangenheit, da er sich selbst entwurzelt sah, ohne Verankerung in festem familiärem Grund.

Der frühverwaiste Knabe stand seit 1810 unter der Obhut seines Oheims Johann Matthäus Bechstein, eines Naturforschers und angesehenen Direktors einer Forstakademie. Doch Ludwig enttäuschte dessen Hoffnungen, er ging vorzeitig vom Lyceum ab, wurde nicht Forstbeamter, sondern Lehrling einer Apotheke in Arnstadt. Dieser trockene Brotberuf will nicht recht passen zu Bechsteins Vorlieben, denn zu dieser Zeit war bereits seine Leidenschaft für alte Sagen und Märlein, für die Vergangenheit und ihre romantische Verklärung zu Tage getreten – er las nicht nur alles, was ihm in die Hände kam, sondern versuchte sich auch an eigenen Werken, freilich noch mit mäßigem Erfolg. Als Vorbote der künftigen überreichlichen Produktion gelang ihm 1823 die Veröffentlichung einer an Johann Karl August Musäus orientierten Sammlung Thüringischer Volksmärchen.

Bechstein erzählte in seiner 1848 begonnenen autobiographischen Aufzeichnung Summa summarum, dem Buch mit sieben Siegeln, von seiner bescheidenen Jugend: „Ich war ein armes Kind, das keinen Vater hatte und das die Mutter in zartester Jugend in Mietlingshände gab, wie schwer diese Tat ihrem Herzen auch geworden sein mag. In dürftigen Verhältnissen wuchs ich auf, und obschon ich nie gebettelt habe, so mag mein Aussehen doch keinen Reichtum verraten haben, denn ich entsinne mich noch eines Hauses in der Nähe der Chorseite der Stadtkirche in Weimar, vor dem ich spielte und aus dessen obern Fenster freundliche Kinder mir einige Pfennige herunterwarfen. Nachdem ich dem Lebenskreise meiner ersten Jugend entzogen war, habe ich nie Überfluß an Geld gehabt, Taschengeld schon einmal gar nicht, weil ich keines bekam, nur ausnahmsweise etwas an besonders festlichen Tagen, zu Weihnachten oder bei kleinen Ausflügen – desto mehr wurde mir eingeschärft, wie schwer es sei, selbst Geld zu verdienen – und ich sah in der Tat keine Möglichkeit vor mir, wie ich es anfangen sollte, jemals dieses Kunststück zu erlernen und auszuüben. Indessen: vita docet – ich lernte allmählich das Kunststück, lernte es in der Kühnischen Apotheke zu Arnstadt. Als Lehrling hatte und bekam ich nur wenig Geld, am wenigsten von da, wo ich dessen nach dem Naturrecht zu fordern hatte – doch ließ mein guter unvergeßlicher Onkel mich nicht darben. Als er tot war, öffneten sich neue Quellen. Mein Prinzipal machte große Augen, als eines Tages jemand kam, eine Reihe Taler auf den Rezepttisch hinzählte, und als er danach langte, ihm bedeutete, es sei für mich, der verlegen neben ihm stand. Es war mein erstes Honorar für Gedichte in der Dolziger Jugendzeitung, und der Kasus in der Apotheke des Herrn Kühn noch nicht vorgekommen, daß ein Lehrling Geld für schriftstellerischen Verdienst, noch dazu für Poesien, empfing; vielleicht auch nicht in andern Apotheken. Mir aber machte das erste selbstverdiente Geld Freude.“

Viel mehr als die Tuben, Pasten und Mörser, mit denen er in seiner Arbeit zu tun hatte, zog ihn freilich das romantische Leben jener Epoche an, das Wandern und Reimen, Musizieren, Flanieren und Diskutieren im Kreise seiner jungen Freunde – wer wird’s ihm verdenken. Da kam es ihm mehr als gelegen, daß eine seiner geistigen Früchte, der 1828 erschienene Sonettenkranz, des Herzogs Bernhard von Sachsen-Meiningen Aufmerksamkeit erregte und diesen veranlaßte, ein Stipendium auszusetzen. So bezog Bechstein im 27. Lebensjahr die hohe Schule zu Leipzig, später jene von München, um Philosophie, Geschichte und Literatur zu studieren. Ganz im Stile seiner Zeit nutzte er die verbliebenen Mittel zum Reisen – eine Wanderung führte ihn durch Oberbayern, auch im malerischen Salzburg machte er ausgiebig Station. Natürlich suchte er die Bekanntschaft bedeutender Künstler, Maler, Musiker und Dichter – die meisten sind uns, ähnlich Bechstein selbst, ein nur mehr ferner Begriff, manche, wie etwa Moritz von Schwind, haben bis in die Gegenwart klingende Namen.

Der Romantiker Bechstein hatte sich in diesen unsteten Wanderjahren einen Namen als Schriftsteller gemacht, wurde von Kritik und Zeitgenossen anerkannt und gelobt – zu ihnen gehörten so bedeutende wie Wilhelm von Kotzebue und Wolfgang Menzel – litt aber auch keinen Mangel an Kritikern. Sie warfen ihm allzu innige Nachahmung seiner Vorbilder Musäus und E.T.A. Hoffmann vor, bezichtigten ihn der „Reimklapperei“, hielten ihm einen Hang zur Weitschweifigkeit vor.

Mit dreißig Jahren, reichlich spät für die damalige Zeit, stieg Bechstein dann ins Berufsleben ein, zunächst als herzöglicher Kabinettsbibliothekar in Meiningen. Nun war der Dichter freilich an jener Quelle, die wie keine seinen Durst nach alten Schriften und Archivalien stillen konnte. Er verfaßte eine Chronik der Stadt Meiningen (1834), wurde damit und durch umfangreiche sammlerische und schriftstellerische Tätigkeit zu einer literarischen und geistigen Autorität. Bechstein, der sich 1832 vermählt hatte, jedoch bald schon zum Witwer wurde und 1836 erneut heiratete – aus seinen Ehen gingen insgesamt sechs Kinder hervor – wurde 1840 zum Hofrat ernannt. Nicht nur daraus erhellt, daß wir uns Bechstein keineswegs als trockenen Gelehrten vorstellen müssen, dem nur an staubigen Schriften gelegen war. Seine literarischen Erfolge und wohl auch das Vermögen seiner zweiten Frau ermöglichten ihm den Bau eines eigenen Hauses, in dem er schließlich einen gastlichen Haushalt führen konnte. Er muß dieses Heim, das ihm als mittellosen Abkömmling aus ärmlichen Verhältnissen keineswegs in die Wiege gelegt war, sehr geliebt, von ihm viel Kraft empfangen haben: „Ich spinne mich nun ein, lasse Doppelfenster in meiner Amtsstube anbringen, versorge den Keller mit Wein, den Stall mit Holz, den Boden mit Korn, soviel als nötig, und hoffe, fleißig zu arbeiten.“ Er hatte das Haus zu einem Museum ausgebaut, zu einem nach außen hin sichtbaren Zeichen seiner Vorlieben: „Über den Türen waren Sprüche gemalt, in allen Ecken waren alte Sachen angebracht, und wenn man Bechsteins Studierzimmer betrat, glaubte man, ins Allerheiligste eines Magiers zu kommen. Retorten und Humpen aller Art, Bilder und Schnitzereien von allen Sorten hingen und standen umher, Harnische und Waffen, Medaillen und Münzen, Bücher und Pergamente, Autographen und Inkunabeln. Und was er nur an Altertümern hatte auftreiben können, war da aufgespeichert ... Ein freundlicher behäbiger Mann im langen, mit Pelz besetzten Schlafrock trat einem strahlend und heiter gegenüber. Es dauerte nicht lange, so standen Gläser und Weinflaschen auf dem Tisch, und der Hausherr brachte sich selbst mit einem Schluck in Stimmung.“

Diesen Lebensstil konnte er sich auch deshalb leisten, weil seiner Feder mit behender Leichtigkeit Gedichte, Geschichten, Romane, Reise- und Lebensbeschreibungen entflossen; Werke, die freilich allesamt nicht Bestand hatten, sprachen sie ehedem auch eine zahlreiche Leserschaft an. Wenn Bechstein nicht literarisch tätig war oder im Kreise seiner Besucher zechte, brachte er sich mit all seiner Kraft in den „Hennebergischen altertumsforschenden Verein“ ein, dem er als Direktor und später Ehrenpräsident vorstand, oder er huldigte seiner Heimat im Sängerbund oder wanderte durch die deutschen Lande – und lauschte dabei jenen Sagen, die er in seinem Deutschen Sagenbuch zu einem bis heute blühenden Strauß band: „Bechstein war ein gottbegnadetes Gefäß des volkstümlichen Geistes dieser Landschaft, ein Erforscher altdeutscher Kulturzustände, dem die Türen der Vorzeit wie von selber aufsprangen“ (Nadler). Wenn man sich all die Interessen und Aktivitäten Bechsteins vergegenwärtigt, versteht man erst so recht einen Satz aus seinem letzten Brief vor seinem Tode: „Es gibt immer zu tun.“

Neben dem an die 1000 Einzelerzählungen umfassenden Sagenwerk, das 1853, mit Illustrationen von Adolf Ehrhardt versehen, veröffentlicht wurde, blieb auch das Deutsche Märchenbuch, das 1845 erschien, bis in unsere Tage von Wert, wenngleich Bechstein noch lange Jahre an dem in großer Eile niedergeschriebenen Werk feilte und 1857 eine Ausgabe letzter Hand verwirklichte. Mit den Illustrationen von Ludwig Richter, die ab der zwölften Auflage die Märchen kongenial zu einem Gesamtkunstwerk vervollständigten, fanden diese Märchen als echtes Hausbuch Eingang in unzählige deutsche Bücherschränke, standen neben der Bibel und dem unvermeidlichen „Doktorbuch“. Man würde Bechstein unrecht tun, schätzte man seinen Anteil an diesem Werk gering, weil er sich auf bereits Vorhandenes stützte oder auf ihm Zugetragenes. Er hat keineswegs nur bereits existierende Märlein verarbeitet, wiewohl der Einfluß der Gebrüder Grimm als auch des bereits erwähnten, damals sehr populären Johann Wolfgang August Musäus nicht zu klein war, sondern fügte auch so manches „Selbsterfundene“ hinzu, wofür er von seinen Zeitgenossen auch genügend gerügt wurde. „Der Vorwurf, dem sich Bechstein ausgesetzt sah, war der, daß er es mit der Treue und Wahrheit nicht so ernst genommen habe. Dieser Vorwurf resultierte aus einer puristischen Einstellung, die nur Quellen und Zeugnisse gelten ließ und über der Forderung nach Wissenschaftlichkeit vergaß, daß als bewahrenswert Erkanntes auch der wirksamen Weitergabe bedarf“, wie Klaus-Dieter Sommer ausführte. Und Bechstein selbst verteidigte sich gegen die Angriffe mit klaren Worten: „Ob ich den rechten Ton traf, wird sich zeigen. Einfachheit im Ton der Erzählung ist beim Wiedergeben der Sagen unerläßliche Bedingnis; keine novellistische, romanhafte Verwässerung, keine blümelnde Schreibweise steht der Behandlung der Sagen an, wo diese Selbstzweck ist – wohl aber darf der Erzählungston wechseln je nach dem Stoff, ja selbst nach der Zeit, der dieser Stoff angehört; er darf streng, herb und derb, romantisch, lustig, kernhaft, nicht minder idyllisch, rührend und erschütternd sein. Der Sagenerzähler muß wissen, welche Tonart er anzuschlagen habe.“

Man kann Bechsteins große literarische Leistung nur dann richtig einschätzen, wenn man weiß, wie wenig Zeit – etwa drei Monate – ihm von seinem Verleger für die Besorgung der ersten Ausgabe gewährt worden war. Und dennoch war ihm wie keinem anderen gelungen, was er als sein Ziel deklarierte: die Liebe zu den einzelnen Sagen und Märchen im Volk zu vertiefen. Seine Erzählungen trafen ob ihres trefflichen Humors, ihrer köstlichen Ironie, ihres volkstümlichen Grundtones genau den Geschmack und auch die Sehnsüchte breiter Bevölkerungsschichten. Bechstein war es vergönnt, wahrhafte Volksbücher schreiben zu können.

Die Puristen späterer Zeiten haben an seinen Märchen freilich genauso herumgemäkelt wie an seinen Sagen, haben ihm zum Vorwurf gemacht, daß er den Texten „unmärchenhafte Züge“ verliehen, sie „skrupellos“ ergänzt habe. Und doch fanden gerade Bechsteins Märchen eine viel größere Verbreitung als die bis heute so populären Grimmschen, die ja von der Anlage eher dokumentativen als volkstümlichen Charakter hatten. Bechsteins Werke haben die Vorstellungen der Altvorderen, unserer Urgroßeltern, wesentlich mitgeprägt, und sie haben durch ihre ungeheure Breitenwirkung eine Art Eigenleben entfaltet, so daß man sie nicht einfach mit akademischer Überheblichkeit vom Tisch wischen kann. Die Bechsteinsche Märchenwelt voll wunderbarer Geschehnisse und naiver Weltsicht, kann weder vor dem gestrengen Auge des Analytikers, noch vor dem Urteil des Soziologen bestehen, der im Märchen einen Spiegel der menschlichen Existenz sehen will. Aber dieser Bechsteinsche Kosmos, in dem so fundamentale Lebensbereiche wie etwa die Sexualität weitgehend ausgeblendet sind, hat die Vorstellungswelt unserer Vorfahren vielleicht mehr beeinflußt, als die damals sich abzeichnenden kühnen Entdeckungen auf dem Gebiete der menschlichen Seelenkunde. Und man darf ihr mehr literarischen Charakter zubilligen, als den Märchen der heute unvergleichlich bekannteren Gebrüder Grimm. Der Dichter selbst sollte recht behalten, wenn er trotz kritischer Stimmen seinen Schöpfungen ein langes Leben voraussagte: „Man mag mit Grund manches an meinen Büchern tadeln, man mag die Sagensammlungen verhöhnen, das kann mich nicht irren. Vom gediegenen Tadel lerne ich, schlechter kommt mir nicht an die kleine Zehe. Ich bin mir meines Strebens sehr klar bewußt und werde immer klarer in mir selbst, daß ich recht gemütfroh Tadel ertrage. Ich weiß, daß ich mit den Sagensammlungen etwas anstrebe, das die Nachwelt mir danken wird, denn die Poesie, die echte, wahre Poesie des deutschen Volkes, die nicht zugrunde ging durch Jahrhunderte voll Abgeschmacktheit und Torheit, die überdauert alle Zeitphasen.“

Es war ein stolzes Lebenswerk, auf das Bechstein zu Ende der 1850er Jahre zurückblicken konnte – neben den Märchen und Sagen vor allem Landeskundliche Werke und Reiseliteratur wie etwa Thüringen und der Harz oder Wanderungen durch Thüringen, Novellen wie die in vier Bänden vorgelegten Erzählungen und Phantasiestücke aus dem Jahr 1831, Arabesken aus 1832, Novellen und Phantasiegemälde (1832), Novellen und Phantasieblüten (1835) oder die Novellen Fahrten eines Musikanten (1837), weiter die Romane Die Weissagung der Libussa (1829), Grimmenthal (1833), Das tolle Jahr (1833), Der Fürstentag (1834), Clarinette (1840), Berthold der Student (1850), Der Dunkelgraf (1854) oder die Geheimnisse eines Wundermannes (1856), schließlich auch Zweihundert deutsche Männer und in Bildnissen und Lebensbeschreibungen (1854), Hexengeschichten (1854) und Freimaurerische Schriften (herausgegeben erst 1926). 

Noch war sein sechstes Lebensjahrzehnt nicht vollendet, als sich ein böses Leberleiden einstellte, dem Bechstein schließlich am 14. Mai 1860 erlag. Auf dem Friedhof Meiningens fand der große Romantiker seine letzte Ruhestätte. Ein Märchenbrunnen erinnert mit einer knappen Inschrift an den wohl berühmtesten Bürger der Stadt: „Ludwig Bechstein dem Märchenerzähler“.

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